Die vier Kränkungstypen - Wenn das Innere (nicht) zum Äußeren passt

Menschen sind unterschiedlich kränkbar. Manche Hartgesottene erwecken den Eindruck, Verletzungen könnten ihnen nichts anhaben, wohingegen im umgekehrten Fall die sprichwörtlichen "Mimosen" unter uns hinter jedem Gespräch einen persönlichen Angriff wittern. So verschieden die Menschen, so unterschiedlich ihre Kränkungen. Dennoch ist es mir gelungen, ein wichtiges Gruppierungskriterium auszumachen, um unterschiedliche Persönlichkeitstypen besser zu verstehen.

 

Bei dem genannten Gruppierungskriterium handelt es sich um den Unterschied zwischen der gezeigten und der empfundenen Widerstandskraft  - wie ich sie nenne. Je nach Ausprägung lassen sich vier unterschiedliche Typen identifizieren, die ich in meinem Modell dem "Vier-Felder-Quadrat der Widerstandskraft" zusammengefasst habe. Im Folgenden finden Sie einen Auszug daraus. Die vollständige Beschreibung der Typen finden Sie in meinem Buch KRÄNKUNGEN - Was sie wert sind und wie wir sie überwinden.

 

 

Das Vier-Felder-Quadrat der Widerstandskraft

 

Vier-Felder-Quadrat der Widerstandskraft, Nauschnegg (2016)  
Vier-Felder-Quadrat der Widerstandskraft, Nauschnegg (2016)  

 

Typ I: Hohe empfundene Widerstandskraft - Hohe gezeigte Widerstandskraft

Manche Menschen scheinen Angriffe abschütteln zu können, bevor sie Spuren hinterlassen. Selbst die boshaftesten Attacken verursachen selten tiefe Wunden. Ihr Verhalten wirkt überlegen, ja fast schon übermenschlich. Letzteres ist es mit Sicherheit nicht. Es ist lediglich ein günstiges Zusammenwirken von Genen und Interpretationen der Geschehnisse. Zwei wesentliche Aspekte scheinen für ein wenig kränkungssensibles Verhalten ausschlaggebend zu sein: das Selbstwertgefühl und die Einstellung der Aufmerksamkeitsfilter. Menschen mit einem ausgeprägten Selbstwertgefühl sind weniger kränkbar und müssen nicht kränken, um ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Und jene, die gelernt haben, ihre Aufmerksamkeitsfilter gezielt zu justieren, "übersehen" gewissermaßen die kleinen Spitzfindigkeiten im Alltag. Menschen mit hoher empfundener und gezeigter Widerstandskraft sind einfach ausgedrückt “bei sich”. Sie sind überzeugt von ihrer Haltung, wissen aber genau, wen sie zu Rate ziehen, wenn es erforderlich wird. Außerdem reagieren sie nicht direkt auf jedes (Fehl)Verhalten anderer. Und nehmen eben viele Verhaltensweisen nicht bewusst wahr beziehungsweise schenken ihnen kaum Beachtung. Wer keine Resonanz in sich findet, fühlt sich nicht gekränkt. Oder anders gesagt, wer anerkennt, dass die Meinung der anderen die Meinung der anderen ist, lässt sich nicht so schnell seiner Energie berauben. Mangelnde Sensibilität oder Empathie hat mit diesem Verhalten wenig zu tun. Es ist eher das Wissen um die Bedeutung des eigenen Fokus. Wer stets damit beschäftigt ist, sein Ansehen aufzupolieren, verschwendet sich an andere. Wer hingegen daran interessiert ist, sein Leben zu gestalten, muss bei sich bleiben und “Hintergrundgeräusche” filtern können.

 

Nichtsdestoweniger können sich auch die stabilsten Menschen gekränkt fühlen. Und zwar dann, wenn es um Begebenheiten im engsten Vertrautenkreis geht. Bei nahestehenden Menschen wird die Meinung geschätzt, Verständnis erwartet und Rücksichtnahme verlangt. Paradoxerweise behandeln einander Menschen in engen Beziehungen häufig schlechter als in losen. Der oft fehlende Versuch, einen guten Eindruck zu hinterlassen, begünstigt gegenseitige Verletzungen. Doch wirklich nachtragend sind Menschen dieser Gruppe nicht. Sie suchen ein klärendes Gespräch, definieren Verbesserungsmöglichkeiten und lassen schließlich situationsbedingte Querelen hinter sich. Zu kostbar erscheint ihnen die Zeit, um im Modus gegenseitiger Schuldzuweisungen zu verharren. Apropos Schuldzuweisungen: Wenn es einen Punkt gibt, der Menschen dieser Gruppe angreifbar macht, dann dieser. Sie neigen gerne dazu, die Schuld in den Umständen oder bei anderen zu suchen. Der straff eingestellte Aufmerksamkeitsfilter lässt Kritik oft nicht zu und verhindert dabei die Übernahme von Verantwortung. Und wer stets die Gegebenheiten oder seine Mitmenschen verantwortlich macht, bringt sich um das eigene Wachstum.

 

 

Typ II: Geringe empfundene Widerstandskraft - Geringe gezeigte Widerstandskraft 

Hierunter fallen für mich Menschen, die entweder mit ihrer Hochsensitivität (noch) nicht umgehen können oder jene, die aufgrund von Erfahrungen vor dem Leben zurückschrecken. Hochsensitivität ist ein (zumeist) genetisches Merkmal im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Reizen, welches für Kränkungen besonders sensibel macht. Hochsensitive Menschen stufen Reize vermehrt als bedeutsam ein und hängen ihren Interpretationen besonders lange nach.

 

Mit Menschen, die vor dem Leben zurückschrecken, meine ich jene, die viele traurige Erfahrungen durchleben mussten, ohne sie jemals verarbeitet zu haben. Gepaart mit einem geringen Selbstwertgefühl und hohen Ansprüchen, wird jede Aussage auf die sprichwörtliche Goldwaage gelegt. Kaum ein Gespräch endet nicht mit dem Gefühl der Niederlage, Kränkung und entsprechenden Rückzugsgedanken. Die erhöhte Empfindsamkeit und das mangelnde Gefühl für den eigenen Wert begünstigen die Vorstellung der grundlegenden Benachteiligung. Und Menschen, die sich benachteiligt fühlen, können die Vorstellung entwickeln, die Welt schulde ihnen etwas und müsse sich an sie anpassen. Die erlittenen Schicksalsschläge würden dazu berechtigen, stetige Rücksichtnahme und Nachsicht verlangen zu dürfen beziehungsweise umsorgt zu werden. Mit der angenommenen Bringschuld ist die Enttäuschung jedoch vorprogrammiert. Denn kaum jemandes Verhalten genügt den hohen Ansprüchen. Worte und Gesten werden zerpflückt, bis das vertraute Gefühl der Verletzung wieder aufflammt. Hohe Sensibilität bedeutet übrigens nicht zwangsweise, auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen. Überwiegt das Gefühl der Ungerechtigkeit, wissen sich diese Menschen durchaus zu verteidigen. Oft attackieren sie mit kleinen Spitzen, die lange unbemerkt bleiben. Sie verletzen ihre Familienmitglieder oder Kollegen/innen als Reaktion auf erlittene Kränkungen. Und das durchaus heimtückisch. Anstatt sich mit ihrer Verletzlichkeit zu beschäftigen, neigen sie dazu, ihr Leiden auf andere zu projizieren und verhindern damit die persönliche Entwicklung.

 

 

Typ III: Hohe empfundene Widerstandskraft - Geringe gezeigte Widerstandskraft

Dieser Gruppe rechne ich Menschen zu, die äußerlich schwach wirken, aber gelernt haben einzustecken. Und auch jene, die ihre Empfindsamkeit als Manipulationsinstrument einsetzen. Ihnen gemein ist ihre scheinbare Zerbrechlichkeit. Sie wirken filigran, empfindlich und wecken den Beschützerinstinkt. Umgekehrt bieten sie aber auch Angriffsfläche für Anfeindungen. Menschen, die zwar äußerlich zerbrechlich, innerlich jedoch robust (geworden) sind, geben oft unbewusst die Erlaubnis, sich verletzen zu lassen. Es wirkt beinahe paradox, denn je mehr sie verletzt werden, umso härtere Angriffe stecken sie ein und hoffen dennoch unbewusst, etwas dafür zu bekommen. Der Wunsch nach Zuwendung und Aufmerksamkeit lässt Kränkungen tolerieren, die überhaupt erst durch eine geringe gezeigte Widerstandskraft verursacht wurden. Denn Menschen greifen bevorzugt jene an, die sich am wenigsten wehren (können). Und je weniger Grenzen gesetzt oder bestehende verteidigt werden, umso härter der Angriff. Die Betroffenen werden dann zu einem sprichwörtlichen Reibebaum, auch wenn sie an der Wut anderer nicht ursächlich beteiligt waren.

 

Die zweite Gruppe, die ich diesem Typus zuordne, besteht aus Personen, die ihre äußerliche Unterlegenheit als persönlichen Vorteil nutzen. Menschen, die je nach Situation empfindsam sind - und das völlig bewusst. Hat sich eine Verhaltensweise als gewinnbringend erwiesen, ist die Wahrscheinlichkeit für deren erneuten Einsatz hoch. Waren Verzweiflung, Hilflosigkeit und Rückzug anfänglich natürliche Reaktionen nach einer Kränkung, können sich diese auch in anderen Situationen als nützlich erweisen. Die zunächst unbewusste Reaktion wird dann sukzessive weiter eingesetzt, um zu manipulieren.

 

Doch wer möchte schon in einer Welt, in der es um Stärke, Kraft und Energie geht, schwach, kraft- und energielos wirken? Vermutlich Menschen, denen es leichter fällt, sich als schützenswerte Opfer zu präsentieren, anstatt selbst aktiv, stark und mutig zu werden. Nichtsdestotrotz verfügen diese Menschen über eine höhere Widerstandskraft, als sie zugeben wollen. Wer sich immer schon gefragt hat, wie manche Menschen jahrelang einen Job ausüben können, der sie augenscheinlich erschöpft, dem sei hier eine mögliche Antwort gegeben. Die äußere Schwäche dient dem Erhalt entgegengebrachter Rücksichtnahme und entspricht nicht zwangsweise der inneren Widerstandskraft. Wenn eine Situation zu schwierig wird, greifen diese Menschen eben auf altbewährte Muster zurück und gehen in die vertraute Opferrolle.

 

 

Typ IV: Geringe empfundene Widerstandskraft - Hohe gezeigte Widerstandskraft

Hierzu zähle ich Menschen mit ausgeprägtem Narzissmus, die auch gerne als "kränkbare Kränkende" bezeichnet werden, aber auch jene, die gelernt haben, nach außen hin selbstsicher, souverän und unverwundbar zu erscheinen, obwohl ihre tatsächliche Gefühlslage anders aussieht. Wenn Menschen hart im Nehmen sind, bedeutet das nicht, dass Attacken keinen Schmerz verursachen. Niemand ist schließlich unverwundbar. Nach außen präsentierte Stärke - oder übertriebene Härte - kann das empfindliche Innere zwar maskieren, aber nicht ausbalancieren. Und explosive Aggressivität zwar Furcht einflößen, aber nicht Überlegenheit und Stärke demonstrieren. So steckt hinter roher Aggression beispielsweise meist der Versuch, die eigene Verletzlichkeit zu verbergen oder Frust abzubauen und der Irrglaube, Aggressivität wäre dazu im Stande.

 

Wenn das äußere Wirken nicht mit der inneren Widerstandskraft übereinstimmt, deutet das auf eine lange Lerngeschichte hin. Um vermeintlichen Defiziten beizukommen, haben sich Menschen dieser Gruppe über Jahre hinweg ausmerzende Verhaltensstrategien antrainiert. Besonders empfindsame Personen beispielsweise können ihre Kränkungssensibilität mit taffem Verhalten überspielen, ohne etwas an der tatsächlichen Sensitivität zu ändern. Das Verbergen der empfindsamen Seite hat sich möglicherweise einst als günstige Strategie erwiesen und wurde dahingehend perfektioniert. Doch das Verstecken der feinfühligen Seite entspricht einem ständigen Kraftakt. Man investiert permanent einen Teil der Aufmerksamkeit in das Aufrechterhalten der Fassade. Auf diese Weise ist irgendwann nicht mehr ausreichend Energie vorhanden, um sich weiteren Angelegenheiten stellen zu können. Dem nicht genug führt das Aufrechterhalten der emotionalen Maskerade zu einem weiteren Problem. Wie geht man mit Menschen um, die stark und kritikfähig erscheinen? Richtig, zumeist weniger feinfühlig und vorsichtig als mit sensibleren Personen. Wenn feinfühlige Menschen also gelernt haben, ihre empfindsame Seite hinter einer selbstsicheren Erscheinung zu verbergen, wird mit ihnen härter umgegangen als mit Menschen, die ihre Sensitivität nicht verbergen. Doch was augenscheinlich anstrengend wirkt, kann auch Vorteile mit sich bringen. Die Anpassung des emotionalen Schutzschildes ist zumeist mit Entwicklungsschritten verbunden, welche die empfundene Widerstandskraft stärken. Eine schwach ausgeprägte innere Widerstandskraft ist also kein Schicksal, sondern eine individuelle Eigenschaft, die trainiert werden kann.

 

Doch lernen Sie zuvor Ihre empfindsamen Anteile wertzuschätzen. Auch diese Aspekte haben Sie dorthin gebracht, wo Sie heute stehen. Und ich bin mir sicher, dass Sie bereits viele schöne, wertvolle und außergewöhnliche Momente erlebt haben, die ohne Ihre empfindsame Seite niemals so kostbar gewesen wären. Leiden Sie jedoch unter Ihrer Sensibilität, können Sie durchaus Ihr Innerstes an Ihre äußere Stärke angleichen, ohne sich im Kern verändern zu müssen. Nehmen Sie dafür Herausforderungen an - auch mit einer geringen inneren Widerstandskraft. Stellen Sie sich den Aufgaben und wachsen Sie mit ihnen.*

 

In diesem Sinne, Tamara Nauschnegg

 

 

*Nauschnegg, T.: KRÄNKUNGEN - Was sie wert sind und wie wir sie überwinden. 1. Auflage: Graz - achtungleben, 2016.

 



Folgende Artikel könnten sie auch interessieren:


Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Barbara (Montag, 31 Juli 2017 11:46)

    Ich habe das Buch soeben bestellt! :)

  • #2

    Tamara Nauschnegg (Dienstag, 01 August 2017 12:47)

    Vielen Dank! Ich würde mich auch auf eine Rezension bei Amazon freuen! Schönen Tag und liebe Grüße,

    Tamara Nauschnegg

  • #3

    Daniel S. Haischt (Donnerstag, 07 Mai 2020 09:58)

    Ich sehe die Zusammenhaenge nicht anders aber etwas differenzierter. Zuerst einmal meine ich schon dass es den objektiv faktischen Moment gibt, indem Menschen andere Menschen schlecht behandeln. In diesem Fall liegt die Verantwortung fuer das eigenene Verhalten, fuer den schlechten Umgang, bei den Menschen, die andere Menschen objektiv und faktisch schlecht behandeln.

    Dann gibt es als einen weiteren Zusammenhang die eigene innere Kraenkbarkeit. Diese erachte ich nicht als staatisches Gebilde. Stattdessen verhaelt sich diese wie ein Kristallisationskeim. Wenn die Umstaende im Aussen entsprechende Bedingungen schaffen, faengt der Kristall an zu wachsen. Ob man dann den Kristall wachsen laesst oder eben nicht, liegt dann wiederum in der eigenen Verantwortung.

    Ganz davon abgesehen ist ja bei einer Muschel der Kristallisationskeim beispielsweise ein Sandkorn oder eine vergleichbare Verunreinigung, die die Muschel plagt. Am Ende kommt dann doch etwas schoenes dabei heraus, naemlich eine Perle. Wenn man bei dem Beispiel bleibt, so kann man die eigene Kraenkbarkeit auch als etwas betrachten, was einen zwar plagt aber von dem man auch etwas lernen kann. Also ist es wie die Perle ebenso ein kleiner Schatz.

  • #4

    Tamara Nauschnegg (Samstag, 09 Mai 2020 14:51)

    Lieber Daniel S. Haischt!
    Vielen Dank für diese schöne Ergänzung. Mein Modell habe ich hier im Auszug präsentiert. Den vollständigen Text dazu finden Sie in meinem Buch "KRÄNKUNGEN - Was sie wert sind und wie wir sie überwinden". In meinem Buch beschreibe ich auch, wie unangemessen sich manche Menschen verhalten. Daran ist nichts zu beschönigen.
    Mir gefällt Ihre Metapher mit der Muschel sehr gut. Sie ist nicht nur kraftvoll, sondern ein schöner Perspektivenwechsel. Dieser führt jedenfalls dazu, die eigene Kränkbarkeit als Lerngelegenheit nützen zu lernen. Und das ist im Wesentlichen die Botschaft meines Buches. :-)
    Vielen Dank nochmals für die überlegten Worte.
    Herzlichst, Tamara Nauschnegg